Das Phantom, der Opa

Für Presse, Funk und Fernsehen ist Opa ja schon seit geraumer Zeit sozusagen ein gefundenes Fressen, wie man auf der Seite Was andere sagen nachlesen kann. Aber dass er es jetzt auch noch in ein Buch geschafft hat, ist schon ein starkes Stück. „Vierzehn Menschen, die ihr Leben in der Rente wesentlich bereichert haben, stellen wir Ihnen in diesem Buch vor“, heißt es in der „Anleitung statt Einleitung“. Und weiter: „So unterschiedlich die Protagonisten der einzelnen Episoden dieses Buches auch sind, sie alle haben eines gemeinsam: Keinem von ihnen wurde auch nur ansatzweise etwas geschenkt, ganz im Gegenteil: Von schwerster Krankheit im Kindesalter über den frühen Verlust der Eltern, einer unerträglich strengen Erziehung bis zur Schwangerschaft im zarten Alter von fünfzehn ist hier so ziemlich alles vertreten, was das Schicksal an Überraschungen zu bieten hat. Vieles von dem, was die hier beschriebenen Personen heute unternehmen und was sie bewogen hat, im fortgeschrittenen Alter kräftig durchzustarten, ergibt sich aus ihren Werdegängen, die deshalb zum Teil recht ausführlich dargestellt sind. Dass alle Episoden in diesem Buch ein Happy End haben, ist gewiss tröstlich und ermunternd, und schon deshalb wird hier alles ausdrücklich zur Nachahmung empfohlen.“ Was soll ich sagen? Neugierig macht das schon. Insofern passt es gut, dass der Verlag ein paar Bücher für eine Verlosung zur Verfügung gestellt hat. Wer also seine Chance auf eines dieser Exemplare nutzen will, muss folgende Frage beantworten: Wie ist der Titel des Buches Das Phantom, der Opa entstanden und welche Idee verbirgt sich dahinter? Fünf einfallsreiche Ideen – entweder als Kommentar direkt auf Opas Blog oder als E-Mail an opa@opas-blog.de – werden mit einem Buch und persönlicher Widmung von Opa belohnt. Einsendeschluss ist der 16. Dezember. Bei mehr als fünf Ideen entscheidet das Los. Der Rechtsweg ist wie immer ausgeschlossen. Und wer hier nicht zum Zuge kommt und das Buch bestellen will: Es ist aber morgen (10. Dezember) im Handel erhältlich.

IMG_0111Wolfgang Max Kracht / Marina Reiter, Das Phantom, der Opa                                      MIRA Taschenbuch, Hamburg, 2015, 256 Seiten, 9,99 Euro, ISBN 978-3-95649-067-5

“Schlimmstenfalls schließen …”

Um es gleich vorweg zu nehmen: Dieser Beitrag ist eine absolute Ausnahme. Aber dieser Tage ist mir (wieder) ein Büchlein in die Hände gefallen, das so geistreich und amüsant zugleich ist, dass ich dafür unbezahlte Werbung machen muss. Gekauft habe ich das Buch wohl noch zu D-Mark-Zeiten, jedenfalls ist die Preisangabe auf der Rückseite in DM, wobei nur am Rande angemerkt sei, dass der Betrag heute in Euro nur unwesentlich niedriger ist als damals. Aber das tut dem Werk, das den einmaligen Titel “Nationalökonomologie” trägt und als 6., weiter er. Aufl. aus dem Jahr 1991 gekennzeichnet ist, keinen Abbruch. Um dem geneigten Leser einen kleinen Eindruck zu vermitteln, zitiere ich ein paar Zeilen aus einem der zahlreichen Beiträge und habe dafür – sozusagen aus lokalpatriotischer Sicht – den “McKinsey-Bericht über den Besuch bei den Berliner Philharmonikern” von Oswald Neuberger ausgewählt. Und der beginnt so: “Die vier Oboisten haben sehr lange nichts zu tun. Die Nummer sollte gekürzt werden und die Arbeit gleichmäßig auf das ganze Orchester verteilt werden, damit Arbeitsspitzen vermieden werden.” Da weiß man gleich: Wirtschaft(lichkeit) und Kunst – zwei Galaxien prallen aufeinander. Und es versteht sich von selbst, dass es in diesem Sinne weitergeht: “Die zwölf Geigen spielen alle dasselbe. Das ist unnötige Doppelarbeit. Diese Gruppe sollte drastisch verkleinert werden. Falls eine größere Lautstärke gewünscht ist, läßt sich das durch eine elektronische Anlage erreichen.” Hiernach spielt der Autor mit Zweiunddreißigstel- und Sechszehntelnoten, was hier allerdings keinen wesentlichen neuen Erkenntnisgewinn bringt und deshalb ebenso unter den Tisch fallen kann wie seine Überlegungen, Partituren wegen zu vieler Wiederholungen “gründlich” durchzuarbeiten, so dass “das Konzert, das jetzt zwei Stunden in Anspruch nimmt, nur noch schätzungsweise zwanzig Minuten” dauere, “so daß die Pause wegfallen kann.” Da ahnt man schon, dass es mit dem Konzertsaal kein gutes Ende nehmen wird, und ist insofern nicht sonderlich verwundert, dass es zum Schluss heißt: “Schlimmstenfalls könnte man ihn ganz schließen und die Leute in das Konzertkaffeehaus schicken…” Was soll ich sagen? Von dem Kaliber sind auch all die anderen Geschichten wie z.B. “Der alte Trapper”, “Eine Anmerkung zu den Opportunitätskosten des Heiratens” oder das “Anekdötchen”. Wem diese Art von Humor zusagt, der liest hier goldrichtig. Allerdings sollte man sich sputen. Der Verlag Mohr Siebeck hat mir zwar versichert, dass die mittlerweile 7., stark rev. Aufl. von 1994 noch lieferbar sei. Die Frage ist nur: Wie lange? Immerhin steht Weihnachten vor der Tür …

IMG_0030                                                         Hrsg. Orestes V. Trebeis, Nationalökonomologie.                                                                  Verlag Mohr Siebeck, Tübingen, 1994, 287 Seiten, 24 Euro, ISBN 978-3-16-146332-7

Gerade noch die Kurve gekriegt

Mit dem ersten Advent hat jetzt die besinnliche Zeit begonnen, die mit der Vorfreude auf das Weihnachtsfest einhergeht. Für Oma und Opa ist das auch die Zeit, in der wir unseren Enkel gerne und begeistert Weihnachtsgeschichten vorlesen. Was eigentlich als kuscheliger und gemütlicher Nachmittag gedacht ist, kann sich allerdings auch zu einer echten Herausforderungen entwickeln. So jedenfalls erging es Oma. Als unser jüngster Enkel dieser Tage da war, wollte er unbedingt, dass Oma ihm aus “unserem großen Weihnachts-Buch” vorlas. Also blätterte Oma ein wenig und blieb bei der Geschichte hängen: Zu Weihnachten wünsche ich mir einen Weihnachtsmann. Sie begann vorzulesen: Der kleine Pit dachte angestrengt nach. Heute morgen hatte sein Vater zu ihm gesagt: „Überleg mal, was du dir zu Weihnachten wünschst.“ Er wollte etwas ganz Besonderes – etwas, was niemand sonst zu Weihnachten geschenkt bekam. Da kam ihm eine Idee. Er sprang so plötzlich auf, daß der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, vor Schreck umfiel. Er rannte zu seinen Eltern. „Ich weiß jetzt, was ich mir wünsche!“, rief er aufgeregt. „Zu Weihnachten wünsch’ ich mir einen lebendigen Weihnachtsmann!“ „Ich hätte dann etwas, was noch nie jemand zu Weihnachten bekommen hat“, erklärte Pit. „Außerdem könnte ich mir das ganze Jahr über vom Weihnachtsmann etwas wünschen.“ Sein Vater sah ihn schmunzelnd an. „Du weißt doch, daß es den Weihnachtsmann …“ Halt dachte Oma, als sie mit ihren Augen bereits die nächsten Zeilen erfasst hatte, so kann das nicht weitergehen. Da stand doch tatsächlich: „… gar nicht gibt!“ Das wollte Oma dem Kleinen (noch) nicht antun und setzte die Geschichte mit den Worten fort: „… nicht nur für ein Kind geben kann. Denn sonst hätten die anderen Kinder auf der Welt keine Geschenke.“ In Windeseile flog sie über die weiteren Zeilen und las für sich den Text weiter, um eine Stelle zu finden, an der sie die Geschichte wieder fortsetzen konnte. Gottlob stieß sie schnell auf eine entsprechende Passage: „Frag den Weihnachtsmann, falls er dich heute Abend wieder besucht, doch selbst, ob du ihn dir wünschen kannst …“ Was soll ich sagen? Da hat Oma ja gerade noch mal die Kurve gekriegt, andernfalls wäre der Weihnachtsmann aus selbiger herausgeflogen.IMG_0246 KopieZiemlich starker Tobak, einfach zu behaupten, es gebe keinen Weihnachtsmann. Da gibt es durchaus auch ganz andere Meinungen, wie hier nachzulesen ist.IMG_0247 Kopie

PS: Das Buch stammt aus dem Jahr 1980 und ist ganz offensichtlich für die Kinder einer ganz anderen Generation. Wie hieß die nochmal?

Schumachers Restlaufzeit

Wer Hajo Schumacher kennt, käme nie auf die Idee, dass sich der Journalist und Autor mit dem Thema Alter bzw. Altern beschäftigt. Doch ganz offensichtlich haben ihn das “Martyrium” seiner Mutter und sein 50. Geburtstag, den er im April gefeiert hat, dazu bewogen, sich mit folgenden Fragen zu beschäftigen: Wie könnte ein würdevoller, lustiger und bezahlbarer Lebensabend aussehen und was muss man dafür tun? In seinem neuesten Buch Restlaufzeit geht er allen möglichen Lebensmodellen für Alte nach: Rentner-WG, Mehrgenerationenhaus, dement unter Palmen oder Luxus-Residenz. Bevor Schumacher allerdings die “Essenz meiner Erkenntnisse, ziemlich viele übrigens” preisgibt, analysiert er mal einfühlsam, mal schonungslos. Ein Beispiel: “Ab 20 plagen vor allem Frauen die erste Krampfadern. Ab 25 setzt die geistige Alterung ein, was aber noch nicht auffällt, jedenfalls nicht so stark wie die ersten Falten. Ab 30 zeigen sich Anzeichen von Bluthochdruck und erste graue Haare, wenn sie nicht schon ausfallen. Ab 35 folgen Anzeichen von Gelenkverschleiß und erste rheumatische Beschwerden. Ab 40 droht verschärfte Vergesslichkeit, Altersflecken, Grüner Star, Alterszucker, Infarkte nehmen zu. Zugleich schrumpft der Körper, Potenzprobleme werden akut, die Lesebrille droht. Ab 50 steigt das Schlaganfallrisiko, Inkontinenz beschäftigt uns sowie zunehmende Schwerhörigkeit. Ab 60 kommt der Graue Star, Osteoporose und – da ist sie – die Mundtrockenheit, an der etwa vierzig Prozent der Senioren leiden. Mangelndes Durstempfinden führt zu Flüssigkeitsmangel, was wiederum Stoffwechselprobleme begünstigt. Genaueres erklärt später der Arzt. Und dann kommt die Demenz.” Altwerden ist nichts für Feiglinge, wusste schon der gerade eben erst verstorbene Joachim Fuchsberger. Ein Feigling scheint Schumacher wirklich nicht zu sein. Mit seinem ihm eigenen Humor und Witz, aber auch mit tiefsinnigem Ernst geht er allen Möglichkeiten nach und kommt zu dem Ergebnis: “Wie erfolgreiches Altern aussehen kann, muss schließlich jeder für sich selbst entscheiden.” Und für alle die, denen es dafür an der entsprechenden Fantasie mangelt, skizziert er mit leichter Feder “Meine 24 Vorhaben”, wobei er ganz genau weiß: “Wie bei allen guten Vorsätzen werden manche auf der Strecke bleiben. Aber Listen sind ein guter Anfang.” Was soll ich sagen? Nur für den, der das Buch liest, gibt es – um bei den Worten des Autors zu bleiben – “gute Chancen, die nächsten zwanzig, dreißig Sommer lustig, bezahlbar und würdevoll zu gestalten.”

U1-Schumacher-Restlaufzeit.indd                                                                                     Hajo Schumacher: Restlaufzeit.                                                                              Eichborn Verlag, Köln, 286 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-8479-0572-1.

Berlin oder doch Timbuktu?

18 Prozent der erwachsenen Bevölkerung sind in ihrer Lese- und Schreibfähigkeit auf dem Niveau von Zehnjährigen stehengeblieben. 14 Prozent gelten als sogenannte funktionale Analphabeten. Die Rede ist nicht etwa von den Menschen in Mali, Burkina Faso, Tschad, Mosambik, Kongo oder Niger, den aktuell ärmsten Ländern der Welt. Nein, die Rede ist von Deutschland, das im letzten Weltentwicklungsreport der Vereinten Nationen Platz fünf belegt und eine der führenden Industrienationen dieses Planeten ist. Man mag es also kaum glauben, doch es ist so. Noch weniger glauben kann man allerdings, dass dagegen nicht einmal etwas getan werden kann, zumindest nicht bundesweit. Denn Bildung ist Ländersache, die Schulbildung allemal. Welche Flausen dieser föderale Flickenteppich im Bildungssystem zuweilen absondert, konnte man vor nicht allzu langer Zeit ja in Berlin bestaunen. Dort hat, wie treue Leser von Opas Blog wissen, der Senat die Hürden für Schulabschlüsse gesenkt. Sowohl die Berufsbildungsreife – der frühere Hauptschulabschluss – als auch der Mittlere Schulabschluss sind seit letztem Schuljahr leichter zu erreichen, als es bisher an den Gesamtschulen möglich war. Zudem kann man mit schlechteren Noten in die gymnasiale Oberstufe aufsteigen. Wenn das nicht des Rätsels Lösung ist. Wenn keiner mehr lesen und schreiben kann, merkt’s sicher auch keiner mehr. Was soll ich sagen? Gott sei Dank haben wir hier in der Stadt ja die Spree, den Fernsehturm und das Brandenburger Tor. Ansonsten könnte man irgendwann einmal auf die Idee kommen, wir sind hier in Timbuktu – wobei ich den Menschen dort wirklich nicht zu nahe treten will.

„Bosheit ist kein Lebenszweck!“

„Max und Moritz machten beide, als sie lebten keine Freude“, heißt es in der Einleitung zu eben jener Bubengeschichte, die seit ihrer Erstveröffentlichung im Oktober 1865 Generationen von Kindern in ihren Bann gezogen hat. „Mit behaglichem Gekicher, weil du selbst vor ihnen sicher“, lauschen auch unsere beiden Enkel mit wachsender Begeisterung, wenn Opa die sieben Streiche dieser bösen Kinder vorliest, „die, anstatt durch weise Lehren sich zum Guten zu bekehren, oftmals noch darüber lachten und sich heimlich lustig machten.“ Und in der Tat ist ja das, was Max und Moritz der armen Witwe Bolte, Meister Böck, Lehrer Lämpel, dem Zuckerbäcker und Bauer Mecke antun, nicht von schlechten Eltern. „Aber, wehe, wehe, wehe! Wenn ich auf das Ende sehe!!“ Da wird doch ziemlich deutlich: „Bosheit ist kein Lebenszweck!“, sondern rächt sich. Was soll ich sagen? Auch wenn die Geschichte dieser Bösewichter schon in die Jahre gekommen ist, hat doch die Darstellung und Unterscheidung von richtig und falsch sowie gut und böse nach wie vor ihre Berechtigung bzw. ist notwendiger denn je. Denn nicht einmal im Fernsehen mehr enden alle Kriminalgeschichten damit, dass am Ende das Gute siegt. Nur eben bei Wilhelm Busch bleibt es dabei: „Gott sei Dank! Nun ist’s vorbei mit der Übeltäterei!“

IMG_1682 Opa liest seinen Enkeln “Max und Moritz” vor: Steckt dahinter etwa auch ein kluger Kopf?

„Unser“ Oma ist echt

Jetzt ist es also raus: Deutschlands bekannteste Twitter-Oma ist nur eine Erfindung. Renate Bergmann, die immerhin fast 22.000 Follower hinter sich geschart hat, heißt in Wirklichkeit Torsten Rohde, ist 39 Jahre alt und arbeitet als Controller. Das Licht der Welt erblickt hatte die Twitter-Oma am 16. Januar 2013, als auf Twitter folgender Tweet erschien: „Guten Tag. Ich heiße Renate Bergmann und bin neu hier. Ich suche nette Damen oder Herren für gemeinsame Unternehmungen. Bitte schreiben Sie.“ Und das taten viele. Innerhalb kürzester Zeit war Renate Bergmann landauf landab der Inbegriff von liebenswerter Schrulligkeit. Dass sie auch noch „Fäßbuck“ eroberte, war mehr oder weniger zwangsläufig, obwohl sie es mit „Händis“ nun überhaupt nicht hat. Wie dem auch sei: Renate Bergmann ist nur eine, wenn auch nette Geschichte. Was soll ich sagen? Wie gut das ich „unser“ Oma habe. Die ist wenigstens echt und bleibt es auch. Von Opa ganz zu schweigen …

Kisch hätte ganz sicher gebloggt

Das Schöne an Krankenhäusern ist ja, dass man mal Zeit hat, Dinge zu tun, zu denen man ansonsten nicht kommt. So zum Beispiel sich von einem Freund besuchen zu lassen und mit ihm über dies und das zu plaudern, ohne Zeit- und Termindruck. Einfach herrlich! Und wenn dieser Freund dann noch ein Büchlein mitbringt, in dem man, wenn er gegangen ist, nach Herzenslust stöbern und lesen kann, ohne Zeit- und Termindruck. Einfach herrlich! Und wenn das Büchlein dann noch Textpassagen enthält, die absolut zeitlos sind, dass es gar keinen Zeit- und Termindruck geben kann, dann ist das einfach nur herrlich. Kleines Beispiel gefällig: „In einer Großstadt wie Berlin erhöht sich die Arbeitszeit schon durch die enorme Entfernung der Wohnung von der Arbeitsstätte, schon die morgendliche Fahrt in der überfüllten Straßenbahn ist Anstrengung, und die abendliche Heimkehr nimmt dem ausgepumpten Arbeiter den Rest seiner körperlichen und geistigen Kraft. Dabei gibt es Zehntausende, die keine Nachtruhe haben, denn der Verkehr zur Arbeitsstelle darf nicht stocken, in Zelten auf dem Fahrdamm werden die Schienen der Straßenbahn beschweißt, in den Tunnels der Untergrundbahn tauscht man die schadhaften Geleise aus, und auf den Landstraßen bessern Erdarbeiter mit Harke und Schippe den Boden aus, damit das Auto des aus seiner Villa kommenden Herrn nicht rüttle … Ein Kontrast? Es gibt ihrer mehr.“ Na, schon ein Idee, von wem der Text stammt? Klingt ja fast zeitgenössisch. Vielleicht hilft ja eine zweite Stelle weiter: „Hinter jedem Luxus steht die harte Arbeit jener, die niemals den Begriff Luxus kennen werden, hinter jeder prunkvollen Theatervorstellung, hinter jedem Ausstattungsfilm steht das Heer derjenigen, die sich um eines Hungerlohnes willen Tag und Nacht hin und her hetzen lassen müssen, deren Namen nicht einmal der kennt, der sie hin und her hetzt, geschweige denn das Publikum, das bewundernd den Namen seiner Lieblinge ausspricht, die „großen“, glänzend bezahlten Regisseure und die „großen“ Schauspieler und Schauspielerinnen.“ Immer noch keine Idee? Um es kurz zu machen: Der Text stammt von Egon Erwin Kisch, Aus dem Café Größenwahn (Berlin bei der Arbeit), aus dem Jahre 1927, gerade neu in 2. Auflage aufgelegt vom Verlag Klaus Wagenbach Berlin. Was soll ich sagen? Es hat sich doch nichts, aber auch gar nichts geändert. Und wenn es damals schon Blogs gegeben hätte, hätte Egon Erwin Kisch ganz sicher gebloggt. Und als Titel für den Blog wäre „Café Größenwahn“ auch prima gewesen.

Purer Horror

Die Einleitung liest sich schon wie purer Horror: “Verantwortungsbewusste Eltern erschrecken ihre Kinder nicht einmal mit Platzpatronen. Der Kindesmisshandler aber gibt nicht bloß Warnschüsse ab, sondern schießt scharf. Seine Attacken verursachen schmerzhafte, teilweise lebensgefährliche Verletzungen, psychisch wie physisch. Und er greift immer wieder an, täglich, wöchentlich, meist über viele Jahre hinweg. Mit Faustschlägen und Fußtritten, mit maßlosen Beschimpfungen und Herabsetzungen. Er sperrt seine Opfer in Kellerlöcher oder Zimmer, deren Fenster mit schwarzer Folie verklebt sind. Er lässt sie hungern, dursten, frieren. Er zerstört ihre Körper und Seelen.” So stimmen die renommierten Rechtsmediziner Michael Tsokos und Saskia Guddat die Leser in ihrem neuen Buch ein. Deutschland misshandelt seine Kinder lautet der Titel dieser “Streitschrift”, die aufrütteln und etwas verändern will. Denn die typische Reaktion auf das Thema sind: “Ein Klaps hat noch keinem geschadet” oder “So etwas macht doch heutzutage in Deutschland niemand mehr!” Doch die Wirklichkeit sieht leider anders aus: “Laut offizieller Polizeistatistik sterben in Deutschland jede Woche drei Kinder an den Folgen ihrer Misshandlung. Jede Woche werden rund siebzig Kinder so massiv malträtiert, dass sie ärztlich behandelt werden müssen. Das sind 3.600 krankenhausreif geprügelte, in die lebenslange Behinderung geschüttelte, mit glühenden Zigaretten verbrannte oder auf andere Weise schwerstgeschädigte Kinder Jahr für Jahr. Und das sind 160 Kinder, die alljährlich bei uns getötet werden – nicht durch Unfälle oder kindlichen Übermut, sondern durch erwachsene Täter – in aller Regel Vater oder Mutter oder der aktuelle Lebenspartner eines Elternteils.” Was soll ich sagen? Da fällt mir nur wieder der kürzeste Satz aus der Bibel ein, den ich bei diesem Thema schon einmal zitiert habe: “Jesus weinte.” (Johannes 11,35)

Tsokos                         Deutschland misshandelt seine Kinder                                                                            Michael Tsokos & Saskia Guddat                                                                                    256 Seiten, 19,99 Euro                                                                                                ISBN: 978-3-426-27616-7                                                                                      Droemer Verlag 2014

PS: Das ZDF hat sich gestern Abend auch des Themas angenommen. Hat zoom+ noch den versagenden Kinderschutz angemessen an den Pranger gestellt, war die Vermischung bei Lanz zwischen Dschungelcamp und geschundenen Kinderseelen unerträglich.

Lesen im Dunkeln

Unser jüngster Enkel kann schon lesen, obwohl er noch keine drei Jahre alt ist. Jedenfalls tut er so, und das auch noch ziemlich überzeugend. So wartete er in unserem seinem Spielzimmer jüngst mit einem Blatt Papier in der Hand und einer bemerkenswerten Brille auf der Nase auf und las seiner Mutter und Großmutter vor. Dass er extra das Licht ausgeschaltet hat, weil er dann mit seiner Brille besser lesen konnte, sei nur am Rande erwähnt. Und so las er denn: „Hier steht, man muss immer dieses Spiel spielen.“ (Anmerkung von Opa: Es geht um das Spiel „Vogelnest“, mit dem schon unsere Kinder so gerne gespielt haben.) Oder: „Hier steht, man muss immer hier baden.“ (Anm. von Opa: Er badet für sein Leben gerne bei uns.) Oder: „Hier steht, man muss immer hier schlafen.“ (Anm. von Opa: Er schläft halt ausgesprochen gerne bei uns.) Was soll ich sagen? Praktisch, so eine Lesebrille im Dunkeln. Wäre sicher auch was für Oma und Opa …

IMG_0957Wohl dem, der eine so tolle Lesebrille hat.