Ich alter, weißer Mann

Oma und ich haben schon Gleichberechtigung praktiziert, da gab es deren Gralshüter noch gar nicht. Jedenfalls haben wir, die 1976 geheiratet haben, immer alles, was uns und unsere Familie betraf, gemeinsam entschieden – und tun das heute noch. Währenddessen allerdings macht sich ein Gender-Wahnsinn breit, der zuweilen kaum noch zu ertragen ist. Wenn ich beispielsweise lese, dass bei der Erarbeitung eines Wahlprogramms Änderungsanträge „entweder von mindestens drei Mitgliedern (davon zwei Frauen*), Arbeitsgemeinschaften, Nachbarschaftstreffen oder der Grünen Jugend eingereicht werden“ können, dann frage ich mich schon, ob das nicht an Diskriminierung grenzt. Ganz sicher bin ich mir aber, wenn ich in der Satzung der grünen Studentenvertretung „Gras“ in Österreich lese: „Auf allen Versammlungen und Veranstaltungen der Partei kann von einer anwesenden FLINT*-Person (Anm. von Opa: FLINT bedeutet Frauen, Lesben, Inter, Nonbinär, Trans) jederzeit und ohne Begründung ein Safe Space verlangt werden. Wird ein Safe Space verlangt, haben für dessen Dauer alle anwesenden Cis-Männer den Raum zu verlassen.“ (Anm. von Opa: Cis bezeichnet die Übereinstimmung von Geschlechtsidentität und dem Geschlecht, das einer Person bei der Geburt zugewiesen wurde). Was soll ich sagen? Irgendwie muss ich an das vom Philosophen Karl Popper 1945 erstmals beschriebene Toleranz-Paradoxon denken. Danach führt uneingeschränkte Toleranz „mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“ Ich weiß, was jetzt einige denken bzw. sagen werden: „Typisch alter, weißer Mann.“ Aber was soll ich als Mann mit langsam grau werdenden Haaren im Alter von fast 69 Jahren auch anderes sein. Oma denkt übrigens genauso. Und was ist sie jetzt?

Haltet den Dieb!

Es ist ein Stück aus dem Tollhaus, mehr noch, ein Skandal und an Verantwortungslosigkeit nicht mehr zu überbieten. Da stellt sich doch tatsächlich der Berliner Innensenator, der ja qua Amt auch Verfassungssenator ist, hin und erklärt zur Gewalt gegen die Polizei auf einer Demonstration gegen die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht, das den Mietendeckel des rot-rot-grünen Senats gekippt hatte: “Die Polizistinnen und Polizisten können nichts dafür, dass CDU und die FDP gegen den Mietendeckel geklagt haben. Insofern waren das dann die falschen Ansprechpartner.” Das erinnert doch stark an den kleinen, miesen Taschenspielertrick, vom eigenen Diebstahl abzulenken, indem man auf einen anderen zeigt und lauthals schreit: “Haltet den Dieb!” Allerdings ist es im Fall von Andreas Geisel noch viel schlimmer. Statt beschämt anzuerkennen, dass die Regierung, der er schließlich als Hüter von Gesetz und Ordnung angehört, mit ihrem Mietendeckel-Gesetz gegen die Verfassung verstoßen hat, stellt sich dieser Mann hin und fordert die Gewalttäter indirekt auch noch dazu auf, sich doch bitte an CDU und FDP schadlos zu halten, die für ihn offensichtlich die richtigen Ansprechpartner gewesen wären. Was soll ich sagen? Ich bin ja nur froh, dass meine Enkel noch zu klein sind, um dieses unwürdige Trauerspiel überhaupt mitzubekommen. Denn erklären könnte ich ihnen nicht, wie ein Innensenator zu solch einem Rechts- und Politikverständnis kommen kann. Es gab in diesem Land einmal Zeiten, in denen wäre ein Politiker nach so einer Vorstellung ganz sicherlich zurückgetreten. Doch die sind lange vorbei – in Berlin allemal. Dennoch: Es ist und bleibt ein Skandal.

Wir haben uns infiziert

Es ist passiert: Oma und ich haben uns infiziert. Nicht mit Corona, Gott sei Dank, sondern mit dem Schachfieber. War es zu Beginn der Pandemie hin und wieder mal eine Partie, setzen wir uns mittlerweile täglich mindestens einmal ans Schachbrett, von dem es in unserem Haushalt inzwischen bereits vier Versionen gibt. Unsere neueste Errungenschaft ist dabei ein klassisches Bauhaus-Schachbrett, das auf seine Funktion als Spielfläche reduziert und randlos ist und in Süddeutschland gefertigt wurde. Passend dazu haben wir uns Figuren angeschafft, die aus dem indischen Amritsar stammen, woher nicht nur die meisten, sondern auch die feinsten Schachfiguren der Welt kommen. Und in der Tat: Der von Hand geschnitzte Springer ist ein wahres Kunstwerk und begeistert mich jedes Mal, wenn ich mit ihm ziehe. Die Form der Figuren geht auf einen in der Mitte des 19. Jahrhunderts gestalteten und nach dem englischen Schachpionier Howard Staunton benannten Satz zurück. Die Königshöhe beträgt zehn Zentimeter. Was soll ich sagen? Manchmal habe ich den Eindruck, dass, je digitaler die Welt wird, die Haptik immer mehr an Bedeutung gewinnt. Bei mir ist es jedenfalls so. Und ich genieße es jedes Mal, wenn ich unsere neuen Figuren in der Hand habe.

Berlin seiner Zeit voraus!?

Es ist nicht alles schlecht in Berlin. Mit dem Impfen gegen Corona beispielsweise bekommen sie das hier eigentlich im Großen und Ganzen ganz gut hin. Laut Robert-Koch Instituts (RKI) haben mindestens 15,6 Prozent der Berliner eine Erstimpfung erhalten, 7,0 Prozent sogar die zweite Dosis. Bei den Vollgeimpften steht Berlin damit derzeit an der Spitze der deutschen Impfstatistik. Auch als Oma und ich letztens geimpft wurden, hat das ganz gut geklappt. Aber Berlin wäre nicht Berlin, wenn nicht irgendwas die Erfolgsbilanz gleich wieder verhageln würde. Und man muss auch gar nicht lange warten. Ein guter Bekannter erzählte mir von seinem Freund, der eine doch recht merkwürdige Mitteilung von den Corona Impfzentren – Berlin erhalten hat – und das bereits am 8. April. So heißt es da: “Sofern wir uns nicht irren, haben Sie Ihren Termin am Mittwoch, den 14. April 2021 um 13.15 Uhr bei Corona Impfzentren – Berlin nicht wahrgenommen oder zu spät abgesagt.” Termin am 14. April 2021 nicht wahrgenommen? Da staunt der Laie, und der Fachmann wundert sich mit Blick auf das Datum. Was soll ich sagen? Das ist typisch Berlin, wo der Berliner, auch wenn der Irrtum evident ist, sagen würde: Berlin ist seiner Zeit voraus – ganz nach dem Motto: Wir haben zwar keine Alpen, aber wenn, dann wären sie die größten der Welt.

Diese Mitteilung spricht für sich.

Wut

Harald Martenstein ist ein großer Wurf gelungen. Wut ist nicht nur ein erschütternder Roman, sondern auch ein imposantes Sittengemälde der Nachkriegszeit, in der eine Mutter mit ihrem Sohn ihren Weg sucht. Die Geschichte aus Sicht des Sohnes zu erzählen, macht Sinn. Denn nur diese Generation kann sich in diesem Drama auch wiederfinden. Die Mutter-Generation dürfte bereits tot sein oder zumindest so alt, dass sie dem Ganzen nicht mehr folgen könnte bzw. gar nicht wollte. Die Frage, ob Martenstein wirklich eigene Erlebnisse kompensiert hat bzw. in welchem Ausmaß, ist müßig. Zu viel Schicksale dieser Art gab es, die ihr trauriges Lied aus dieser Zeit singen können. Das macht die Sache von Prügel und Nichtbeachtung natürlich nicht besser. Jeder, der auch nur annähernd ähnliche Erlebnisse gehabt hat, weiß, dass die einen nie los lassen werden, egal wie alt man wird. So richtig die Darstellung Martensteins von Eigen- und Fremdsicht auf Mutter und Sohn auch ist, die entscheidende Frage, warum dieser grenzenlosen Egoismus vieler Nachkriegsmütter sich so ungebremst entwickeln konnte, bleibt auch bei ihm letztlich unbeantwortet. Aber wie sollte es auch anders sein. Wie sollten die Söhne (und auch Töchter) wissen, warum ihre Mütter so tickten, wie sie tickten, wenn die sich dessen nicht einmal und vor allem keiner Schuld bewusst waren. Was soll ich sagen? Mit Sprache, Stil und Ende des Buches mögen manche nicht einverstanden sein und zurechtkommen. Das ist zwar bei mir nicht der Fall. Aber es ändert auch nichts an der Erkenntnis, dass jeder sein Schicksal auf seine Weise bewältigen muss. Der eine schreit es heraus, der andere frisst es in sich hinein. Entscheidend ist, eine Zukunftsperspektive für sich zu finden, die das Leben für sich und andere erträglich macht. Das an sich ist schon schwierig genug. Doch mit Martenstreins Wut haben alle Betroffenen nun die Gewissheit: Sie sind nicht allein. Und geteiltes Leid ist bekanntlich halbes Leid.

Harald Martenstein, Wut
Ullstein, Berlin, 2021, 272 Seiten, 22,00 Euro, ISBN978-3-550-20210-2

Frohe Ostern

Ungeachtet dessen, dass es bereits das zweite Ostern ist, das während Corona stattfindet, wünsche ich allen Lesern ein frohes Osterfest. Was soll ich sagen? Hoffen wir, dass der Hase nächste Jahr keine Maske mehr tragen muss.

Auch ich würde blind wählen

Es ist tatsächlich passiert. Wider Erwarten sind Oma und ich bereits mit AstraZeneca geimpft, während Ärzte, Lehrer und andere Berufsgruppen, die an vorderster Corona-Front stehen, zunächst einmal in die Röhre schauen müssen. Unser Impfglück verdanken wir der umstrittenen Entscheidung der Ständigen Impfkommission und der Gesundheitsministerkonferenz, den Impfstoff nicht mehr an unter 60-Jährige zu verimpfen. Daraufhin hat es Berlin Menschen zwischen 60 und 69 Jahren – also wie Oma und mir – ermöglicht, sich auch ohne Impfeinladung bereits ab Karfreitag mit AstraZeneca impfen zu lassen. Einen Termin konnte man telefonisch und ohne Buchungscode ab Gründonnerstag um 7.00 Uhr vereinbaren. Das allerdings war eine Herausforderung. 28 Mal habe ich versucht, bei der Hotline durchzudringen. 27 Mal bin ich dabei nach jeweils zwei Minuten damit vertröstet worden, dass alle Plätze durch das gestiegene Interesse belegt seien, und aus der Leitung geflogen. Beim 28. Mal dann wurde mir eine Wartezeit von 23 Minuten angekündigt, die ich auch geduldig abgewartet habe. Mehr noch: Nach 36 Minuten schließlich teilte mir die monotone Computerstimme im Endergebnis mit, dass es mit einem Impftermin wegen des großen Andrangs doch nichts mehr werden würde. Doch bevor ich – Gott sei Dank – wütend und enttäuscht auf mein Handy schlagen und die Verbindung abbrechen konnte, vernahm ich eine freundliche weibliche Stimme, die mich nach Nennung ihres Namens mit säuselnder Stimme fragte: “Was kann ich für Sie tun?” Zunächst ging ich davon aus, dass meine Nerven derart ramponiert sein mussten, dass ich da eine akustische Fata Morgana wahrnehmen würde. Doch die junge Dame ließ nicht locker und holte mich in die Wirklichkeit zurück. Und eh ich mich versah, hatte ich für Oma und mich einen Termin gemacht, der bereits am Karfreitag um 10.30 Uhr stattfand. Nun sind wir also geimpft und der Normalität zumindest ein kleines Schrittchen näher gekommen. Was soll ich sagen? Als Berliner ist man ja diesbezüglich nicht sonderlich verwöhnt. Dass etwas mal funktioniert und die Menschen zuvorkommend sind, ist ja eher selten. Umso erstaunlicher war die gute Organisation vor Ort und die Freundlichkeit der vielen, auch ehrenamtlichen Helfer. Bemerkenswert war zudem, dass sich Ärzte bei den Geimpften bedankten, dass sie sich mit AstraZeneca haben impfen lassen und damit einen Beitrag zur Pandemiebekämpfung geleistet hätten. Ich hoffe nur, dass trotz des unseligen Hin und Hers um den Impfstoff viele Menschen von dem Angebot Gebrauch machen und sich impfen lassen – auch mit AstraZeneca. Denn wie hat eine Ärztin und Professorin u.a. auf dem Gebiet der Arzneimittelsicherheit in einem Interview auf die Frage geantwortet, mit welchem Impfstoff sie sich denn impfen lassen würde, wenn sie es sich aussuchen könnte: “Sie können mir die vier zugelassenen Impfstoffe hinlegen, ich ziehe einen Impfstoff blind heraus und lasse mich damit impfen.” Gut so! Da kann sich so mancher Politiker vor allem in der Regierung eine Scheibe von abschneiden.

Glücklicher Opa an Karfreitag in Berlin nach der ersten Corona-Impfung mit AstraZeneca.