Berlin oder doch Timbuktu?

18 Prozent der erwachsenen Bevölkerung sind in ihrer Lese- und Schreibfähigkeit auf dem Niveau von Zehnjährigen stehengeblieben. 14 Prozent gelten als sogenannte funktionale Analphabeten. Die Rede ist nicht etwa von den Menschen in Mali, Burkina Faso, Tschad, Mosambik, Kongo oder Niger, den aktuell ärmsten Ländern der Welt. Nein, die Rede ist von Deutschland, das im letzten Weltentwicklungsreport der Vereinten Nationen Platz fünf belegt und eine der führenden Industrienationen dieses Planeten ist. Man mag es also kaum glauben, doch es ist so. Noch weniger glauben kann man allerdings, dass dagegen nicht einmal etwas getan werden kann, zumindest nicht bundesweit. Denn Bildung ist Ländersache, die Schulbildung allemal. Welche Flausen dieser föderale Flickenteppich im Bildungssystem zuweilen absondert, konnte man vor nicht allzu langer Zeit ja in Berlin bestaunen. Dort hat, wie treue Leser von Opas Blog wissen, der Senat die Hürden für Schulabschlüsse gesenkt. Sowohl die Berufsbildungsreife – der frühere Hauptschulabschluss – als auch der Mittlere Schulabschluss sind seit letztem Schuljahr leichter zu erreichen, als es bisher an den Gesamtschulen möglich war. Zudem kann man mit schlechteren Noten in die gymnasiale Oberstufe aufsteigen. Wenn das nicht des Rätsels Lösung ist. Wenn keiner mehr lesen und schreiben kann, merkt’s sicher auch keiner mehr. Was soll ich sagen? Gott sei Dank haben wir hier in der Stadt ja die Spree, den Fernsehturm und das Brandenburger Tor. Ansonsten könnte man irgendwann einmal auf die Idee kommen, wir sind hier in Timbuktu – wobei ich den Menschen dort wirklich nicht zu nahe treten will.

Bundesjugendspiele

Manche Geschichten liegen ja im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße bzw. kommen an einem auf der Straße vorbeigelaufen. Als ich gestern eine Runde um den Block drehte, überholte ich auf der Höhe einer dort befindlichen Grundschule drei Mädchen und einen Jungen, der sich gerade ob der offensichtlich anstehenden Bundesjugendspiele echauffierte: “Wenn die Jugendspiele heißen, warum muss ich dann überhaupt teilnehmen? Ich bin doch noch gar kein Jugendlicher.” Was soll ich sagen? Juristisch gesehen hatte er sicherlich recht. Denn nach deutschem Recht ist Jugendlicher, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist. Was allerdings die sportliche Fitness des Jungen und seine Figur angeht, könnte er ganz offensichtlich ruhig ein wenig mehr Sport treiben. Und da gibt es sicherlich viel unangenehmere Anlässe als Bundesjugendspiele. Opa jedenfalls hatte da früher immer viel Spaß.

“Die RechtSchreip-Katerstrofe”

Der aktuelle “SPIEGEL” spricht Opa aus der Seele, was zugegebener Maßen nicht immer der Fall ist. “Die RechtSchreip-Katerstrofe” lautet die plakative Überschrift der Titelseite, die derzeit die Menschen von Flensburg bis Garmisch-Partenkirchen von den Kiosken aus anlacht. Doch zum Lachen gibt es leider gar nichts. Vielmehr wird da eine bittere Wahrheit verkündet: Viel zu viele Kinder sind unfähig, sich auch nur einigermaßen nach den Regeln des Dudens schriftlich auszudrücken. Dabei können die Jungen und Mädchen am wenigsten dafür. Vielmehr haben vermeintliche Pädagogen nichts unversucht gelassen und mit sogenannten Reformen die Schüler traktiert. Politiker taten mit ihren ideologischen Grabenkämpfen ein Übriges und beglückten die Schulen ebenfalls mit Reformen, die nach dem nächsten Wahlgang natürlich wieder reformiert werden mussten. Was soll ich sagen? In Anlehnung an den Spruch auf einem bildungskritischen T-Shirt: Die kinda prauchen keine Leerer und politika mär, die sin nähmlich Selba shon shlau!

“demonstrire gegen die lösunk”

Dieses Mal muss es ein längeres Stück als sonst sein. Aber versprochen: Es lohnt sich. Also, da habe ich einen Text wiedergefunden, der Mitte der 80er Jahre in Schulkreisen zirkulierte und der die Schulentwicklung der letzten Jahrzehnte anhand einer mathematischen Aufgabenstellung beschreibt. Übertrieben vielleicht, aber doch recht trefflich – und er passt gut zu meinen Texten “Slawanzugkurzbeinig” und “forzicht frisch gelegt”:

Volksschule 1950:

Ein Bauer verkauft einen Sack Kartoffeln für 20 Mark. Die Erzeugerkosten betragen vier Fünftel des Erlöses. Wie hoch ist der Gewinn?

Realschule 1960:

Ein Bauer verkauft einen Sack Kartoffeln für 20 Mark. Die Erzeugerkosten betragen 16 Mark. Berechne den Gewinn.

Gymnasium 1970:

Ein Bauer verkauft eine Menge Kartoffeln (K) für eine Menge Geld (G). G hat die Mächtigkeit 20. Für die Element g aus G gilt: g ist 1 Mark.

In Strichmengen müßtest du für die Menge G zwanzig Strichlein (////////////////////) machen, für jedes Element g eines. Die Menge der Erzeugerkosten (E) ist um vier Strichlein (////) weniger mächtig als die Menge G. Zeichne das Bild der Menge E als Teilmenge der Menge G und gib die Lösungsmenge (L) an für die Frage: Wie mächtig ist die Gewinnmenge?

Waldorfschule 1978:

Ein Sack Kartoffeln kostet 20 DM. Ein Käufer bezahlt für einen Sack biodynamischer Kartoffeln 30 DM.

Gestalte die Seite mit harmonischen, dreigegliederten, fünfeckigen Formen, die den Text behutsam umschleiern. Benutze dazu lila „Stockmar-Wachsfarbe“.

Wer lebt länger?

Integrierte Gesamtschule 1982:

Ein Bauer verkauft einen Sack Kartoffeln für 20 DM. Die Erzeugerkosten betragen 16 DM. Der Gewinn beträgt 4 DM.

Aufgabe: Unterstreiche das Wort Kartoffeln und diskutiere mit deinem Nachbarn darüber!

Weiterreformierte Schule 1988:

Ein kapitalistisch-privilegierter bauer bereichert sich one rechtfertigung an einen sak kartoffeln um 4 marck. untersuche den tekst auf inhaltlische gramatische ortogravische und zeichensätsungsfeler. korigire die aufgabengestaltunk und demonstrire gegen die lösunk!

Was soll ich sagen? Was ich schon damals gesagt habe: Um Gottes willen. Wie wohl die Aufgabenstellung 2020 aussieht?

“Slawanzugkurzbeinig”

Erwachsene neigen zu der Meinung, früher sei alles besser gewesen. Selbst unsere Kinder denken schon in diese Richtung. Ob das allerdings so stimmt, lasse ich an dieser Stelle erst einmal offen und berichte über das, was Oma und mir dieser Tage in die Hände gefallen ist. Da fanden wir doch einen Brief einer unserer Töchter, als diese im Alter von acht Jahren war, also in die zweite Klasse ging. “Liebe Omi!”, heißt es da. “Wann kommt das Packet an. Wo drinnen ist ein Slawanzugkurzbeinig. Wenn du mir andwortest dann schreibe mir einen Brief zurück. Und danke nocheinmal für den anderen Brief. Deine …” Aus Gründen des Postgeheimnisses bleibt der Verfasser anonym. Die Frage, die sich aber stellt, ist die, ob die Schule früher wirklich besser war als heute. Was soll ich sagen? Mich beruhigt nur, dass das Kind, das den zitierten Brief einmal geschrieben hat, heute ein abgeschlossenes Hochschulstudium vorweisen kann, in einem mehr als respektablen Beruf ihre Frau steht und ein ganz hervorragendes Deutsch schreibt.

“forzicht frisch gelegt”

Jede Woche werden in Deutschlands Schulen rund 1.000.000 Unterrichtsstunden nicht stundenplangemäß gehalten. Das hat der Deutsche Philologenverband 2011 errechnet und weiter angemahnt, dass auf jede ersatzlos ausfallende Stunde mindestens eine weitere kommt, die nicht nach Stundenplan gehalten wird. Unterrichtsausfall scheint also hierzulande ein Massenphänomen zu sein. Am schlimmsten ist laut Philologenverband die Lage an Berufsschulen, an denen rund zehn Prozent des Unterrichts ausfällt. Es folgen die Gymnasien mit rund acht Prozent, an Grundschulen sind es rund vier Prozent. Zum Glück dauert es ja noch eine Weile, bis unsere Enkel eingeschult werden, aber bedenklich stimmt das alles schon. Vor allem Kinder mit Migrationshintergrund, die vielleicht auch noch in Brennpunktgebieten deutscher Großstädte wohnen und dort zudem durch die oftmals festgestellte Bildungsferne ihres Elternhauses benachteiligt sind, sind von diesem Missstand betroffen. Was soll ich sagen? Wie schlimm das alles ist, zeigt das unten abgebildete Bild, auf dem der sicher wohl gemeinte, aber doch sehr nachdenklich stimmende Hinweis eines Fliesenlegers zu lesen ist: “forzicht frisch gelegt”.

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