Coronarischer Imperativ

Eigentlich sollte es keiner Erläuterung bedürfen, warum die Goldene Regel so wichtig und richtig ist. Doch gerade in diesen Tagen erscheint es notwendiger denn je, an sie zu erinnern und auf ihre Einhaltung zu drängen: „Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg auch keinem andern zu.“ Denn der Polizist Derek Chauvin, der sein Knie acht Minuten und 46 Sekunden lang auf den Hals von George Floyd gepresst und damit den Tod des 46-Jährigen verschuldet hat, würde ganz gewiss nicht wollen, dass ihm Gleiches widerfährt. Auch der 27-jährige Münsteraner, seine 45-jährige Mutter sowie die fünf weiteren Männer aus Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Brandenburg und Hessen, die derzeit wegen des Verdachts des schweren Kindesmissbrauchs in Untersuchungshaft sitzen, würden sicherlich nicht wollen, dass man ihnen derart Gewalt antut. Und all diejenigen, die Tag für Tag andere Menschen diskriminieren, ausgrenzen, mobben oder sonst irgendwie in ihrer Würde verletzen, wären nicht sonderlich angetan, wenn sie sich plötzlich in der Opferrolle wiederfänden. Dabei kommt es nicht einmal auf Vorsatz an. Schon Gedankenlosigkeit kann ausreichen, so manches Leben zur Hölle zu machen. Ähnlich verhält es sich auch in der Corona-Pandemie. Wenn jeder darauf bedacht wäre, niemand anderen zu gefährden, hätte das Virus keine Chance. Doch während die überwiegende Mehrheit der Bürger in unserem Land die Hygiene- und Verhaltensregeln bzw. – empfehlungen beachtet,

Verhalte Dich so, dass es keine Einschränkungen mehr geben muss.

gibt es immer und überall Ignoranten, alte wie junge, die sich über alles und jeden hinwegsetzen. Die sich daraus ergebenen Konsequenzen haben dann aber wiederum alle zu tragen. Damit an dieser Stelle kein Missverständnis entsteht: Auch ich bin der Meinung, dass die Beschränkung unserer Freiheitsrechte eine bis dato in der Bundesrepublik nicht dagewesene und kaum ertragbare Dimension erreicht hat(te) und so schnell wie nur eben möglich wieder rückgängig gemacht werden muss. Aber so paradox es auch klingen mag, die größtmögliche Freiheit für alle ergibt sich aus der freiwilligen Selbstbeschränkung jedes Einzelnen. In Anlehnung an Immanuel Kant, der mit seinem Kategorischen Imperativ versucht hat, den individuellen Blickwinkel der Goldenen Regel zu verallgemeinern und eine hypothetische Objektivität zu schaffen, könnte in dieser Pandemie vielleicht ein coronarischer Imperativ helfen. Aus „Handle nach derjenigen Maxime, durch die Du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ würde dann „Verhalte Dich so, dass es keine Einschränkungen mehr geben muss.“ Was soll ich sagen? Das Leben könnte so einfach sein – mit oder ohne Corona. Wie auch immer, wenn ich an die letzten Wochen und Monate denke, muss ich sagen: Hut ab vor unseren Kindern. Die haben den Lockdown mit Homeschooling und Homeoffice ohne Murren und Klagen gehandelt und das, obwohl Oma und Opa als Kinderbetreuung aus den bekannten Gründen ausgefallen sind. Da könnten sich manche, denen es in weiten Teilen wesentlich besser ging, noch eine Scheibe von abschneiden. Wir jedenfalls sind stolz auf unsere beiden Töchter und die Schwiegersöhne, die das alles mit ihren Buben bravourös gemeistert haben.